Diesen Text habe ich nach Aidens Tod bekommen.
Emil ist gestern ganz früh aufgewacht. Da war es
draußen noch dunkel und obwohl Emil schon fast sechs Jahre alt ist, fürchtet er
sich ein bisschen, nachts ganz alleine aufzustehen. Aber Emil musste dringend
Pipi machen, da half es nichts, so sehr er sich auch anstrengte – Emil musste
all seinen Mut zusammennehmen und stieg aus dem Bett. Mäuse, das weißt du ja
vielleicht, erschrecken sich nämlich sehr schnell. Besonders dann, wenn sie
noch ziemlich kleine Mäuse sind. Seine Mama lässt deswegen im Flur immer eine
kleine Lampe für Emil brennen, damit er den Weg ins Badezimmer finden kann und
sich ein bisschen weniger fürchtet. Emil findet das gut. Aber so richtig weg
ist die Angst trotz der Lampe nicht.
Als sich Emil wieder mit klopfendem Herz in sein Bett
kuschelte, hörte er, dass seine Eltern sich leise in ihrem Schlafzimmer
unterhielten. Ob sie am Abend wohl auch zu viel getrunken hatten und aufstehen
mussten? Aber bevor Emil weiter darüber nachdenken konnte, war er auch schon
wieder eingeschlafen und träumte einen schönen Mäusetraum. Morgens kitzelten
ein paar warme Sonnenstrahlen Emils Schnurrhaare und ihn aus dem Schlaf. Er
reckte seine Mäuseärmchen und blinzelte aus verschlafenen Knopfaugen in den
Morgen. Mama Maus saß auf seinem Bett und streichelte seine kleine Pfote.
„Guten Morgen, Mama!“, sagte Emil ein bisschen verwundert. Mama sagte nichts.
Sie streichelte nur weiter Emils Pfötchen und sah sehr müde aus. Emil verstand
das nicht, denn eigentlich war seine Mama immer gut gelaunt und begrüßte ihn
jeden Morgen mit einem fröhlichen Lächeln, hatte schon sein Lieblingsfrühstück
auf den Tisch gestellt und sang meist ein nettes Liedchen.
Nachdem sich Emil aufgesetzt hatte und er seine Mama
Maus fragend ansah, sagte sie: „Guten Morgen, mein kleiner Emil. Ich muss dir
etwas erzählen.“ „Hm…“, dachte Emil. Und mehr konnte er gar nicht denken, denn
seine Mama hatte er noch nie so seltsam erlebt. „Opa Maus ist heute Nacht für
immer eingeschlafen.“, sagte Mama Maus und ihr kullerte dabei eine dicke
Mäuseträne über die Wange. Das verstand Emil schon wieder nicht. Spätestens
wenn Opa Maus Pipi machen müsste oder Hunger bekäme, würde er von ganz allein
aufwachen! Das klappte bei Emil doch auch immer. „Niemand kann für immer
einschlafen, selbst Opa nicht“, dachte Emil „und Opa kann wirklich eine Menge
Dinge!“ „Wie geht das denn, dass man für immer einschläft?“, fragte Emil und
seine Öhrchen zuckten dabei. Das taten sie immer, wenn Emil ein bisschen
aufgeregt war. „Emil“, antwortete seine Mama „dein Opa schläft für immer, weil er
heute Nacht gestorben ist.“ Was „gestorben“ bedeutete, wusste Emil. Aber Opa
konnte nicht einfach gestorben sein. Das konnte nicht stimmen, dachte Emil,
denn er war ja am Tag zuvor noch mit seinem Opa spazieren gegangen und sie
hatten sich darüber unterhalten, wie man Eichenbäume erkennen kann und wo man
die größten Haselnüsse findet. „Heißt das, er ist tot?“, fragte Emil und nun
zuckten nicht nur seine Öhrchen, er merkte, dass es ihm ganz komisch im Bauch
und in seinem Mäuseherz wurde. „Ja, mein Schatz, das heißt es. Weißt du, Opa
Maus war schon sehr alt und er hatte ein sehr glückliches Mäuseleben.
Irgendwann endet das Leben, das ist bei jedem so. Bei jeder Pflanze und bei
jedem Tier und bei allen Lebewesen auf dieser Erde. Alles hat einen Anfang und auch
ein Ende. Ich bin sicher, dass Opa in den Mäusehimmel geflogen ist und dich nun
von dort oben aus sehen kann.“, erklärte Mama Maus.
Emils Kopf fühlte sich auf einmal ganz leer an und
deswegen sagte er eine Weile nichts mehr. Mama hielt ihn im Arm und beide
schauten schweigend der Sonne vor Emils Kinderzimmerfenster zu, die strahlend
aufging. „Mama? Aber Opa ist doch jetzt keine Fledermaus geworden, oder? Wie
kann er denn in den Himmel fliegen? So ohne Flügel?“, fragte Emil, nachdem er
ein bisschen nachgedacht hatte und seine Mama musste ein bisschen schmunzeln.
„Nein, Emil. Opa ist keine Fledermaus geworden. Er wohnt jetzt einfach
woanders. Um dort hinzukommen, braucht man ganz spezielle Flügel, die nur Engel
haben.“ Für Emil war das alles sehr schwer zu verstehen. Und er spürte
mindestens zweitausend Fragen, die in seinem Kopf herumflitzten – und einen
großen, schweren Kloß in seinem Hals fühlte er ebenfalls. „Wenn Opa jetzt
woanders wohnt, kann ich ihn ja trotzdem besuchen!“, sagte Emil plötzlich sehr entschlossen.
Er würde gleich seine kleine Tasche packen und er, Mama und Papa würden Opa
ganz einfach besuchen gehen. Das konnte doch nicht so schwierig sein! Emil
schlüpfte aus Mamas Umarmung, hopste aus dem Bett und suchte seine Tasche. Sie
lag ganz unten in seiner Verkleidungskiste; direkt neben dem Piratenkostüm und
dem Holzschwert, das Opa ihm aus einem Stückchen Baumrinde gebastelt hatte. Er
zog seinen gestreiften Pullover und die rote Hose an, setzte sich die
Piraten-Augenklappe auf, schnappte sich sein Schwert und dann rief Emil: „Los
geht‘s! Auf zu Opa! Ahoi!“ Mama Maus aber machte ein bedrücktes Gesicht. „Komm
mal mit ans Fenster.“, bat sie Emil. Und dann schauten beide aus dem Fenster
und Mama zeigte auf den Himmel. Wenn man genau hinsah, konnte man noch einen
kleinen Stern sehen. „Schau, Emil“, sagte Mama „wir können Opa leider nicht
mehr besuchen. Jedenfalls nicht so richtig.“ „Was soll das heißen, Mama?“,
fragte Emil und wurde wütend. Und sehr traurig. Beides gleichzeitig. „Wenn man
gestorben ist, ist man an einem anderen Ort. Ganz bestimmt ist man dann im Mäusehimmel,
wo es sehr, sehr schön ist. Aber sich sehen, miteinander spazieren gehen,
gemeinsam Erdbeeren pflücken und Käsekuchen essen – das geht nicht mehr so, als
wenn Opa noch leben würde.“, sagte Mama Maus.
Emil fing an, zu weinen. Er musste so sehr weinen wie
er noch nie in seinem Leben geweint hatte. Selbst als er sich beim
Fahrradfahren das Knie aufgeschürft hatte, hatte er nicht so sehr weinen
müssen. Mama Maus hielt Emil fest im Arm. Und dann zeigte sie ihm den Stern am
Himmel, der am frühen Morgen immer noch zu sehen war. „Da oben, irgendwo bei
diesem Stern, da ist Opa jetzt ganz bestimmt und wird dir bei allem zuschauen,
was du machst. Er wird sehr stolz sein, was du alles von ihm gelernt hast. Und
sicher wird er mit dir gemeinsam lachen, wenn du Pirat spielst und mit eurem
Holzschwert durch den Garten flitzt.“ Emil wollte aber nicht, dass Opa da oben
bei dem Stern ist. Emil wollte, dass Opa bei ihm ist und ihm die Öhrchen
kraulte. So wie sonst auch immer. Und außerdem wollte Emil jetzt allein sein.
Er rannte nach draußen, auf die große Wiese vor ihrem Mäusehaus, und schrie
ganz laut „Oooopaaaa!“. Opa würde ihn hören und kommen und sie würden sich in
den Arm nehmen und alles wäre gut. So wie gestern, als Opa noch da war, dachte
Emil. Er schrie so laut und so lange nach Opa Maus bis er ganz heiser wurde und
sich erschöpft auf die Wiese setzte. Dann schaute Emil in den Himmel und dachte
nach. Nach einer Weile meinte Emil, dass Mama Maus vielleicht recht hatte und
Opa zwar nicht mehr bei Emil und seiner Familie wohnte, aber woanders. Und nur,
weil jemand woanders wohnt, heißt das ja nicht, dass man nicht trotzdem an
jemanden denken kann. Und wenn man ganz fest an jemanden denkt, ist es fast so,
als wäre er da. Das wusste Emil, denn das hatte er schon mal ausprobiert, als
sein Papa auf großer Mäusegeschäftsreise war. Da hatte er jeden Abend so fest
an Papa Maus gedacht, dass es sich beinahe so anfühlte, als säße Papa an seinem
Bett. Das wollte Emil mit Opa auch probieren, wenn er ihn schon nicht besuchen könnte.
Also dachte Emil ganz fest an Opa. Und tatsächlich! Wenn Emil die Augen schloss
und seine Nase in den Wind hielt, dann fühlte er Opas dicken Mäusebauch und wie
toll es war, sich an ihn zu kuscheln. Das machte Emil ein warmes Gefühl im
Bauch und er musste nicht mehr weinen. Naja, jedenfalls nur noch ein kleines
Bisschen, weil er Opa ja so sehr vermisste und auch, weil er noch ein kleines
Bisschen sauer auf Opa war, der nun tot war und nicht mehr bei ihm wohnte.
Dann kam Emils Mama auf die Wiese und hielt einen
roten Luftballon in der Pfote. „Wollen wir einen Ballon zu Opa in den Himmel
schicken?“, fragte sie. Und Emil wollte. Sie sahen dem Luftballon lange nach,
bis er nur noch ein ganz kleiner Punkt war. Sicher würde sich Opa darüber
freuen. „Mama?“, fragte Emil. „Ich weiß jetzt, wo Opa wohnt.“ Emil legte eine
Pfote auf die Brust und sagte: „Opa wohnt nicht woanders. Er wohnt in meinem
Herz. So wie immer.“ Emil gab Mama einen Kuss. Dann nahm er sein Holzschwert,
flitzte durch den Garten, spielte Pirat und wusste genau, dass Opa genau in
diesem Moment mit ihm lachte. Und seitdem hatte Emil keine Angst mehr in der
Nacht, denn Opa war immer bei ihm, wenn er nur ganz fest an ihn dachte.
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